Gedanken

Sándor Márai: Bekenntnisse eines Europäers

Sándor Márai: Bekenntnisse eines Europäers

„Ein Mensch, der an den Buchstaben gebunden ist, hat kein anderes Vaterland als die Muttersprache“, schreibt der ungarische Schriftsteller Sándor Márai in dem autobiografischen Roman „Bekenntnisse eines Bürgers“ (1934). Márai erzählt darin von seiner Kindheit und Jugend in Kaschau, der damals zweitgrößten Stadt Ungarns und von den frühen Wanderjahren, die ihn von Deutschland und Frankreich bis in den Orient führen.
Mit der Rückkehr nach Ungarn im Jahre 1928 beginnt für Márai eine Zeit außergewöhnlicher literarischer Produktivität und Erfolge. Zuvor hat sich der Sohn aus großbürgerlichem Elternhaus als Journalist seinen Lebensunterhalt verdient.

Fiktion und Wirklichkeit

Der Übersetzer und Biograf Ernö Zeltner schreibt, Sándor Márai habe einen wahren Irrgarten voller Fakten, Erinnerungen, Biografie und Fiktion hinterlassen. Wie im Werk seines Vorbildes Goethe würden in „Bekenntnisse eines Bürgers“ Dichtung und Wahrheit ineinander übergehen. Neben zahlreichen Romanen hat Márai über Jahrzehnte hinweg Tagebuch geführt. Die mit Schreibmaschine geschriebenen Journale waren von Anfang an zur Veröffentlichung bestimmt.
Das Leben bezeichnet Márai in „Bekenntnisse eines Bürgers“ als „zweifelhaftes Material“, der Schriftsteller dürfe nur in Maßen und „in präpariertem Zustand“ davon Gebrauch machen.

Kaschau – eine europäische Stadt

Geboren wurde Márai 1900 als Sándor Károly Henrik Grosschmid in der damals ungarischen Stadt Kassa (deutsch Kaschau, heute Košice, Slowakei). Die Vorfahren sind deutsche Sachsen, dennoch bekennt sich die Familie Grosschmid zu Ungarn.
„Das Fluidum der Stadt war ungarisch, aber in Pantoffeln und Hemdsärmeln, nach dem Abendessen, wechselten auch die Herren zum Deutschen über.“
In seinen fiktiven Erinnerungen beschreibt Márai die Heimatstadt als Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen und Sprachen. Bis zum heutigen Tag ist die Stadt ein bedeutendes Zentrum der europäischen Roma.
„Man redet Ungrisch, Windisch, Polnisch und Deutsch, doch meistens Ugrisch, und diese drei Sprachen lernen die Kinder auf der Gassen voneinander ohne müh“, weiß schon der ungarische Simplicissimus aus dem Jahre 1683 über Kaschau zu berichten.

Jüdisches Leben

Seit Ende des 15. Jahrhundertes gibt es in Kaschau eine jüdische Gemeinde.
„In unserem Haus wohnten zwei jüdische Familien: Eine ’neulogische‘, ‚fortschrittliche‘, weltmännische und verbürgerlichte, reiche jüdische Familie, die die gesamte Straßenfront des zweiten Stocks gemietet hatte, sie lebten recht verschlossen und hochmütig, suchten nicht die Bekanntschaft mit anderen im Haus; und unten im Erdgeschoß, hinten im Hof, eine andere, ‚orthodoxe‘, sehr zahlreiche jüdische Familie, die arm war und auf eine ganz ungewöhnliche Weise fruchtbar, unablässig trafen neue Verwandte ein und kamen Kinder zur Welt, und sie alle lebten zusammen hinten im Hof in drei dunklen Stuben, wo es zuweilen, an Feiertagen, von lärmenden und geschäftigen Besuchern und Familienmitgliedern so wimmelte … Diese armen Juden trugen großteils galizische Tracht und hielten die religiösen Gebräuche streng ein …“
Anschaulich schildert Márai den gesellschaftlichen Aufstieg der Juden, die auf der Flucht vor der Armut aus dem Osten in das oberungarische Kultur- und Handelszentrum gekommen waren.
„Es kam vor, dass sich manche aus der ‚armen‘ jüdischen Familie im Erdgeschoß ihre merkwürdige Frisur stutzen ließen, daß sie gewissermaßen in Zivilkleidung schlüpften, den Kaftan wegwarfen, sich die Haare schneiden ließen, sich rasierten sich modisch kleideten, der Zeit gemäß – bei den meisten kam es ziemlich schnell zu dieser großen Veränderung.“

Kaschau während des Holocaust

In den frühen 1940er Jahren umfasste die jüdische Gemeinde circa 11.800 Mitglieder. Während des Massenmordes an den ungarischen Juden, organisiert von Adolf Eichmann ab April 1944, spielt die Stadt eine besonders tragische Rolle. Denn aufgrund der geografischen Lage und Nähe zu Auschwitz wird Kaschau zu einem „Hauptumschlageplatz“ der Deportationszüge aus der ungarischen Provinz.
Im Mai und Juni 1944 gehen fünf Transporte aus Kaschau mit insgesamt über 15.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern nach Auschwitz-Birkenau. Zuvor waren die Menschen unter katastrophalen Bedingungen in einer Ziegelei interniert.
Wenige Kaschauer Juden überleben den Völkermord und emigrieren später. Forderungen nach Rückgabe des während des Holocaust gestohlenen Eigentums schaffen nach Kriegsende den Nährboden für neue Feindseligkeiten. Wie die Juden werden auch die Roma Opfer von Verfolgung und Massenmord.

Deutschland und Europa

In den frühen 20er Jahren schicken die Eltern Márai zum Journalismusstudium nach Leipzig. Später arbeitete er neben von ihm verehrten Schriftstellern wie Thomas Mann und René Schickele für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung, deren Renommee und Einfluss bis nach New York und London reichen. Eine einzige Wirtschaftsmeldung könne die New Yorker oder Londoner Börse in Bewegung setzen, schildert Márai.
Márais Muttersprache ist Ungarisch. Nicht ohne Verwunderung stellt er fest, dass seine Beiträge in deutscher Sprache dennoch ohne Änderungen gedruckt werden. Überall in der Welt hockten „ausgebuffte Schriftsteller“, die sonst was dafür gegeben hätten, „dass das Blatt sie druckte“, schreibt Marái.
„Bekanntlich wachten bei der Frankfurter Zeitung siebenköpfige Drachen über die Reinheit der deutschen Sprache. Der Bau eines Nebensatzes war hier, in dieser vielleicht einzigen echten Weltzeitung Deutschlands, fast so wichtig wie sein ideeller Gehalt.“

Den Faschismus, der sich wie ein unheilvolles Gewitter über Europa zusammenbraut, beschreibt Márai eindringlich. Die oft gepriesene deutsche Ordnung schildert er wie folgt:
„In der Tat, was für eine Ordnung überall herrschte, in den Museen, auf den Bahnhöfen und auch in den Privatwohnungen! Nur in den Seelen, den deutschen Seelen herrschte keine ‚Ordnung‘.“
Über die Verzweiflung der Deutschen angesichts der Inflation heißt es:
„Die Fremden brachten körbeweise ausländisches Geld in das billige Deutschland, und die Deutschen stopften für Papierkredite die Fabriklager mit ausländischen Rohstoffen voll. Jeder hatte zu tun; nur die Mittelklasse, die Lateiner und die Beamten bluteten aus; wer von Gehalt oder Ruhegeld lebte, war hilflos dem Martyrium der Teuerung preisgegeben.“
Sich selbst bezeichnet er als „Schieber“ Widerwillen.
In jener Zeit entdeckte er den elsässischen Schriftsteller René Schickele für sich. Er spricht von einem „europäischen Patriotismus“.
„Ich prüfte jeden neuen Menschen unter diesem Aspekt, ich hätte gern erfahren, ob es schon den europäischen Menschen gab, irgendwo in einem polnischen Salon oder an einer dänischen Universität, die Art Europäer, die in erster Linie das ist und erst hernach Däne oder Pole.“

Fremd in Paris

Sándor Márai und seine Frau „Lola“ (Ilona), geborene Matzner.

1923 heiratet Márai Ilona („Lola“) Matzner, eine Frau aus jüdischem Elternhaus. Die beiden kennen sich seit ihrer gemeinsamen Jugend in Kaschau, wo beide dieselbe „erdrückende Provinzialität“ geatmet hätten. Das Ehepaar verbringt einige Zeit in Deutschland und reist dann nach Paris.
Márai beschreibt Paris als Ort der Gleichgültigkeit, der es Fremden nicht einfach machte. Lola und er fühlten sich zwar geachtet, dennoch blieben sie lange Zeit für sich. Der Sieg über Deutschland 1918 war hier immer noch präsent. Die Besetzung des Ruhrgebietes sei für die meisten Franzosen eine persönliche, familiäre Angelegenheit, erklärt Márai.
Im ersten Jahr erkrankt Lola lebensgefährlich und überlebt nur dank der Hilfe eines Pariser Modearztes. Márai beginnt die Künstlercafés am Montmartre zu frequentieren. Langsam lernt er die „europäische Art“, wie Márai es ausdrückt. In den schmutzigen Straßencafés dampft und kocht es, Politik, Kunst, Revolution. Wer diese Orte mied, „wich einfach den Ereignissen aus“.
Er kauft ein Auto und lernt die französische Provinz kennen.
„Das Auto zeigte mir das Land, und mir wurde allmählich bewusst, von welchen Reserven Paris gespeist wurde; … von den Alpen bis zu den Obstgärten der Normandie sandten Erde und Menschen Frisches und Gutes ins Pariser Schaufenster …“

Rückkehr in die Heimat als Schriftsteller

Zweifelsohne ist Márai bei seiner Rückkehr nach Ungarn 1928 bereits ein berühmter Mann. Eineinhalb Jahrzehnte großer literarischer Schaffenskraft liegen vor ihm. Márai wird vom erfolgreichen Journalisten zum gefeierten Schriftsteller.
Der Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1944 setzt der Karriere jedoch ein abruptes Ende. Nach dem Krieg kehrt Márai kurz in das Licht der Öffentlichkeit zurück. Mit der Machtergreifung der Kommunisten 1948 verlässt der Schriftsteller, der als Chronist des ungarischen Bürgertums gilt, jedoch die Heimat. Er sollte nie mehr zurückkehren.

Ein Exil in Deutschland hätte Márai offengestanden: Er hätte von den Tantiemen der deutschen Ausgaben seiner Werke leben können, doch nach den Jahren des Krieges hatte sich Márai von den Deutschen entfremdet. „Ohne sie kann Europa nicht auf die Beine kommen. Ohne sie gibt es kein Verlagswesen, kein wissenschaftliches, kein Theater und Musikleben in Europa“, schrieb er dennoch.
Márai reist gemeinsam mit seiner jüdischen Frau in die Schweiz und lässt sich dann in Süditalien nieder. Später emigriert das Paar mit einem Adoptivsohn in die USA. Von der literarischen Welt weitgehend vergessen, setzte Márai seine Arbeit fort, die er nun im Selbstverlag und bei Migrantenverlagen veröffentlicht. Nach Lolas Tod und dem frühen Tod des Adoptivsohnes, von einer Krebserkrankung gezeichnet, nimmt sich der Autor 1989 in San Diego das Leben.

Vergessen und wiederentdeckt

Neun Jahre nach seinem Tod erscheint 1998 in Mailand der Roman „Die Glut“ aus dem Jahre 1942 in italienischer Sprache. Der Roman erreicht innerhalb eines Jahres zwölf Auflagen mit mehr als 150.000 verkauften Exemplaren.
1999 beginnt der Piper Verlag in München mit dem Roman „Die Glut“ eine erfolgreiche Márai-Edition.
Sándor Márai gilt heute als einer der bedeutendsten europäischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Quellen:

Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers. Piper München 2009.
Ernö Zeltner: Sándor Márai. Ein Leben in Bildern. Piper München 2001.
Michael Okroy: Kaschau war eine europäische Stadt. Ein Reise- und Lesebuch zur jüdischen Kultur und Geschichte. Arco Verlag Wuppertal 2005.

Published by Schönherr Elisabeth

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